Eine Community zersplittert?

Über Solidarität, Sichtbarkeit und das Auseinanderdriften unter dem Regenbogen“

Die queere Community gilt als Symbol für Vielfalt, Zusammenhalt und gemeinsamen Widerstand. Über Jahrzehnte hinweg wurde Sichtbarkeit erkämpft, Anerkennung erstritten, Schutz gefordert.
Man stand zusammen – gegen Diskriminierung, gegen Pathologisierung, gegen gesellschaftliche Ausgrenzung.

Doch schaut man heute genauer hin, zeigt sich ein anderes Bild.
Eines, das sich nicht leicht in den Glanz von Regenbogenfarben kleiden lässt.
Denn neben dem berechtigten Ruf nach Gleichberechtigung gibt es auch ein wachsendes Phänomen der inneren Spaltung.
Und das verdient Aufmerksamkeit.

Interferenz statt Zusammenhalt?

Innerhalb der queeren Szene ist längst nicht alles solidarisch, was unter dem gemeinsamen Akronym LGBTQIA+ steht.

  • Transfeindlichkeit unter Schwulen.
  • Biphobie unter Lesben.
  • Rassismus in weißen queeren Räumen.
  • Ableismus gegenüber neurodiversen queeren Menschen.
  • Asexuelle, die nicht „queer genug“ seien.
  • Nonbinäre, die in Binär-Kategorien zurückgedrängt werden.

Es entsteht ein Paradoxon:
Eine Bewegung, die auf Vielfalt fußt, verliert genau durch diese Vielfalt mitunter ihre innere Verbindung.
Denn wer nur seine eigene Identität sieht,
aber nicht den Schmerz und die Realität anderer Gruppen anerkennt,
baut keine Community – sondern Mauern.

Viele queere Menschen haben in der Gesamtgesellschaft nie wirklich einen Platz gehabt.
Und in der eigenen Community… oft auch nicht.
Das ist eine doppelte Enttäuschung. Und sie tut weh.

Die Fahne, die alles sagte – und jetzt zersplittert?

Ein Blick zurück:
Als Gilbert Baker 1978 die Regenbogenflagge entwarf, dachte er nicht an Identitätsgruppen, sondern an universelle menschliche Kräfte.

Die Bedeutung der Farben:

  • Rot für das Leben.
  • Orange für Heilung.
  • Gelb für das Licht.
  • Grün für die Natur.
  • Blau für Harmonie.
  • Violett für den Geist.

Diese sechs Farben waren keine Schubladen.
Sie waren ein Versprechen:
Du bist Teil dieses Ganzen. Ohne Bedingung.

Doch mit den Jahrzehnten entstanden neue Flaggen – für Trans, Bi, Inter*, Ace, Pan, Nonbinary, Genderqueer, Agender, Polyamorie, Two-Spirit, und viele mehr.
Heute gibt es über 170 Pride-Flaggen. Jede von ihnen steht für Sichtbarkeit, für Kampf, für Identität.

Und doch stellt sich eine unbequeme Frage:
Wenn jede Gruppe ihre eigene Flagge hat –
gibt es dann überhaupt noch eine gemeinsame?

Ist die queere Community heute eine große Bewegung –
oder eine Kommode voller Schubladen?

Natürlich: Jede dieser Flaggen hat ihre Berechtigung.
Sie macht uns aufmerksam auf Realitäten, die lange übersehen wurden.
Sie gibt Namen und Farbe dem, was oft im Schatten blieb.
Sichtbarkeit ist kein Luxus, sondern ein Überlebensprinzip.

Aber:
Wenn Sichtbarkeit zur Abgrenzung wird, zur Ausschlusspraxis, zur Identitätspolizei, dann verlieren wir etwas Wesentliches.
Nämlich das, was „Community“ eigentlich meint:
Zusammengehörigkeit – trotz Unterschied.

Es geht nicht darum, weniger bunt zu sein.
Es geht darum, zu fragen:
Was hält uns noch zusammen?

Toleranz ist nicht genug – auch nicht intern.

Wir fordern zu Recht Toleranz und Akzeptanz von der Mehrheitsgesellschaft.
Aber wie tolerant sind wir intern – füreinander?

Wie oft verwenden wir dieselben Mechanismen, die wir draußen kritisieren?
Wie oft kategorisieren, hierarchisieren, entwerten wir – nach Coolness, nach Körper, nach Ausdruck, nach Zugehörigkeit?

Wenn eine Bewegung sich mehr mit dem Ausschluss der „Falschen“ beschäftigt als mit dem Schutz der Verletzlichsten,
dann steht sie still – oder geht rückwärts.

Gerade jetzt – in Zeiten, in denen Rechte erstarken, in denen queere Menschen wieder zur Zielscheibe werden, in denen in Social Media Hass algorithmisch belohnt wird –
brauchen wir mehr denn je ein echtes, gelebtes „Wir“.

Was tun?
Ein Plädoyer für eine neue Regenbogenpraxis

Wir müssen zuhören, nicht nur reden.

Wir müssen miteinander streiten, aber mit Respekt.

Wir müssen Sichtbarkeit ermöglichen, ohne sie gegeneinander auszuspielen.

Wir müssen gemeinsame Räume schaffen, nicht nur parallele.

Wir müssen die ursprüngliche Regenbogenidee wiederentdecken:
Nicht als Zeichen einer Uniformität, sondern als Symbol gelebter Vielfalt, getragen von einem gemeinsamen Geist: Zusammenhalt.

Denn queere Befreiung war nie ein Projekt des Einzelnen.
Sie war immer ein kollektiver Aufbruch.

Vielleicht ist es Zeit, nicht neue Flaggen zu erfinden,
sondern die Bedeutung der alten wiederzubeleben.

Und uns daran zu erinnern:
Wir sind viele – aber nicht allein.

Radio QueerLive
Die Redaktion