II. Liebe als Konsumgut – Wenn Beziehungen Teil des Marktes werden

Es ist ein Satz, den du kennst, auch wenn du ihn nie bewusst gehört hast: Wenn etwas nicht mehr funktioniert, ersetze es.
Das ist der leise Soundtrack unserer Zeit – und er läuft längst auch im Hintergrund unserer Liebesbeziehungen.
Was in der Konsumwelt selbstverständlich ist, hat sich tief in unser Denken eingeschrieben: Wir kaufen, nutzen, entsorgen. Und manchmal behandeln wir Menschen genauso.

Beziehungen im Modus der Verfügbarkeit

Du kennst das Gefühl. Du triffst jemanden, alles scheint leicht, aufregend, hell. Dann kommt ein Moment der Reibung, eine Unsicherheit, eine Enttäuschung – und schon beginnt der innere Rückzug.
Warum sich anstrengen, wenn es doch da draußen unzählige andere gibt, die „besser passen“ könnten?

Diese Haltung ist kein persönliches Versagen. Sie ist eine Folge unserer Kultur.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles darauf ausgelegt ist, Bedürfnisse sofort zu befriedigen. Geduld, Aushalten, Wiederholung – das klingt altmodisch. Das Neue ist verführerischer, einfacher, schneller verfügbar.

Doch Liebe funktioniert anders. Sie ist kein Produkt, sondern ein Prozess. Und Prozesse brauchen Zeit, Vertrauen, Wiederholung – genau das, was in einer Welt des Sofortigen verloren gegangen ist.

Dating als Marktplatz

Die Dating-Apps, die wir nutzen, sind gebaut wie digitale Kaufhäuser. Du scrollst durch Profile wie durch Regale. Du klickst, vergleichst, bewertest. Du optimierst dein eigenes Profil, wie ein Produktdesign, das besser performen soll.
Und ohne es zu merken, verinnerlichst du diese Logik.

Wir alle tun es: Wir denken in Optionen. Wir vergleichen, bevor wir fühlen. Wir investieren erst, wenn die Rendite stimmt.
Doch die Liebe ist kein rationaler Tauschhandel. Sie ist ein Wagnis, ein Unkalkulierbares. Wer sie kalkuliert, verliert sie.

Wegwerfmentalität im Herzen

In der schwulen Szene ist dieses Muster oft besonders sichtbar, nicht weil queere Männer oberflächlicher wären – sondern weil sie in einer besonders dynamischen, schnell getakteten Welt leben. Berlin, Hamburg, Köln – überall dort, wo viele Menschen mit ähnlichen Sehnsüchten leben, entsteht ein paradoxes Feld: Nähe ist leicht zu finden, aber schwer zu halten.

Wenn eine Beziehung kriselt, wirkt es fast modern, zu gehen. „Ich brauche Freiheit“, „Ich will mich entwickeln“ – das sind legitime, oft echte Sätze. Aber manchmal sind sie auch Tarnworte für Flucht.
Flucht vor Konflikten. Flucht vor der Angst, sich zeigen zu müssen. Flucht vor dem Schmerz, dass Liebe nicht immer leicht ist.

Dabei wäre genau das der Punkt, an dem Nähe beginnt: wenn die Masken fallen, wenn das Ideal bröckelt, wenn zwei Menschen sich aushalten müssen.

Selbstoptimierung als Sackgasse

Du kennst sie, diese Mantras: „Arbeite an dir selbst“, „Werde die beste Version deiner selbst“.
Das klingt gesund, und oft ist es das auch. Aber manchmal verwandelt sich Selbstoptimierung in Selbstvermeidung.

Viele schwule Männer haben ein Leben lang gelernt, sich zu behaupten – gegen Ablehnung, Vorurteile, Zuschreibungen. Aus dieser Anstrengung entsteht Stolz, aber auch Erschöpfung.
Man will stark sein, unabhängig, begehrenswert.
Doch wer ständig damit beschäftigt ist, zu beweisen, dass er „gut genug“ ist, hat kaum Raum, sich verletzlich zu zeigen.

Und ohne Verletzlichkeit bleibt Liebe an der Oberfläche.
Perfekte Menschen lieben nicht – sie performen Zuneigung.

Das Verschwinden des Wir

Unsere Gesellschaft feiert das Ich.
Individualität ist das höchste Gut, Selbstverwirklichung das Lebensziel.
Doch das Wir – die Fähigkeit, sich einzulassen, Verantwortung zu übernehmen, sich gegenseitig zu tragen – ist dabei in den Hintergrund gerückt.

In Beziehungen zeigt sich das subtil: Statt „Wie geht es uns?“ fragen wir: „Was bringt mir das?“
Wir analysieren, ob der andere uns guttut, ob wir genug Freiraum haben, ob das Verhältnis von Geben und Nehmen stimmt.
Das ist verständlich, aber es ist auch eine Form von Bilanzdenken – eine, die verhindert, dass Liebe einfach sein darf.

Berlin als Bühne des Neuanfangs

In keiner Stadt wird so viel angefangen und so wenig beendet wie hier.
Beziehungen, Freundschaften, Affären – alles beginnt leicht, schillernd, mit Möglichkeiten. Doch die Bewegung, die Berlin ausmacht, ist auch das, was Beziehungen zersetzt: das ständige Weiter, das Nie-genug, das Immer-neu.

Die Stadt lebt von Energie, Spontaneität, Experiment. Aber Liebe lebt von Beständigkeit, von Wiederkehr.
In einer Stadt, die das Neue feiert, ist das Bleiben ein Akt der Rebellion.

Reparieren als Revolution

Vielleicht ist genau das der Punkt, an dem wir umdenken müssen.
In einer Welt, die uns beibringt, Dinge zu ersetzen, ist es radikal, etwas zu reparieren.
Zu bleiben, wenn es unbequem wird. Zu reden, statt zu fliehen.

Liebe braucht keine Perfektion. Sie braucht den Mut, Fehler zu überstehen, Widersprüche auszuhalten und Vertrauen nicht als Zustand, sondern als tägliche Entscheidung zu begreifen.

Das ist keine Romantik, sondern Realität: Beziehungen sind Arbeit, Reibung, Geduld.
Aber sie sind auch der Ort, an dem wir lernen, uns selbst zu erkennen – jenseits der Rollen, die wir nach außen spielen.

Vielleicht ist das der eigentliche Luxus in einer Welt des Überflusses: jemanden zu finden, mit dem man nicht nur anfängt, sondern bleibt.

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Die Redaktion