Zwischen Bekenntnis und Bremse: Die neue „Mitte-Studie 2024/25“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt: Eine deutliche Mehrheit bejaht den Schutz von Minderheitenrechten – zugleich wächst in Teilen der Bevölkerung die Abwehr gegen Gleichstellungsthemen und geschlechtliche Vielfalt.
Für queere Menschen ist das mehr als Symbolpolitik: Es entscheidet über Sicherheit, Teilhabe und Würde.
Der Lackmustest der Demokratie
Wer Minderheiten schützt, schützt die Demokratie vor sich selbst – so die demokratische Lehre seit Tocqueville: Mehrheiten dürfen nicht zur Willkür werden. In der aktuellen Studie sagen viele Befragte genau das: Minderheitenrechte sollen gelten, selbst wenn eine Mehrheit dagegen wäre. Gleichzeitig legt das Datenbild eine zweite, widersprüchliche Bewegung offen: Ein substanzieller Anteil empfindet Rücksicht auf Minderheiten als „zu viel“, relativiert also den Schutz unter dem Verweis auf nationale Interessen.
Für queere Menschen – Lesben, Schwule, bisexuelle, trans, inter und nicht-binäre Personen – ist diese Spannung keine Theorie. Sie bestimmt, ob Familienrecht, Selbstbestimmungsgesetz, Bildungspläne, kommunale Schutzkonzepte oder Polizeistatistiken zu Hasskriminalität politisch vorankommen – oder blockiert werden.
Die Normalisierung der Abwertung – mitten in der Mitte
Die Forscher:innen beschreiben die „angespannte Mitte“: ein gesellschaftliches Feld, das mehrheitlich demokratisch denkt, aber beim Thema Gleichwertigkeit ambivalent wird. Dort, wo es konkret wird – bei Migration, Gender, Sexualität – kippt das Gespräch schnell in Kulturkampf-Vokabeln.
Ein zentrales Ergebnis: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) ist auch in der Mitte keine Randerscheinung. Rassistische, antisemitische, hetero-/sexistische und klassistische Einstellungen treten zusammen auf, können sich gegenseitig verstärken – und dienen als Brückenideologien hin zu illiberalen, teils rechtsextremen Weltbildern. Besonders Hetero-/Sexismus erweist sich in den Analysen als Scharnier: Wer starre Geschlechterrollen und die Abwertung queerer Lebensweisen akzeptiert, ist signifikant häufiger auch für andere Ungleichwertigkeitsmuster empfänglich.
Queerfeindlichkeit als Politikstil – wie Kulturkämpfe Mehrheiten verschieben
Die Studie zeichnet nach, wie Maskulinismus und Antifeminismus eine gemeinsame Erzählung mit Nationalchauvinismus und Autoritarismus bilden: „echte“ Männlichkeit und eine „natürliche“ Zweigeschlechterordnung werden zur Bewährungsprobe nationaler Stärke aufgeladen. In dieser Logik erscheinen Eheöffnung, Selbstbestimmung oder inklusive Sprache nicht als Freiheitsgewinne, sondern als „Angriff“ auf eine vermeintliche Normalität.
Das ist strategisch: Wenn Debatten von realen Verteilungsfragen (Wohnen, Pflege, Energiepreise) auf symbolische Identitätskonflikte gelenkt werden, verschieben sich die politischen Koordinaten – und zwar in der Mitte. Dort entsteht jene „Grauzone“ zwischen Ablehnung und Zustimmung, die Rechtspopulist:innen kalkuliert bedienen: Man muss queere Menschen nicht offen abwerten – es reicht, Gleichwertigkeit zur Geschmackssache zu erklären.
Der Riss durch die Begriffe: Akzeptanz ja, Sichtbarkeit nein
Die Daten deuten auf ein bekanntes Muster: „Ich hab nichts gegen… – aber.“
Viele bejahen abstrakt gleiche Rechte, lehnen aber konkrete Sichtbarkeit ab – etwa in Schule, Verwaltung, Medien oder Sprache. In der Sprache findet der Konflikt ein besonders niedrigschwelliges Ventil: Ein großer Teil der Befragten gibt an, sich am Gendern zu stören. Solche Antworten sind selten nur Stilfragen; sie markieren oft Grenzziehungen, die die Legitimität von Gleichstellungsanliegen insgesamt relativieren.
Für queere Jugendliche hat das Folgen: Wenn Sichtbarkeit politisch delegitimiert wird, schrumpfen Schutzräume, Lehrpläne werden vorsichtiger, Beratungsstellen geraten unter Rechtfertigungsdruck. Das Risiko von Hasskriminalität steigt dort, wo öffentliche Rhetorik Minderheiten als „Problem“ rahmt – unabhängig davon, ob die Mehrheit „im Prinzip“ gleiche Rechte bejaht.
Zugehörigkeit verweigert – warum sich Minderheiten nicht als „Mitte“ fühlen
Im Interviewteil der Studie wird ein weiterer Punkt stark gemacht: Viele Menschen aus Minderheiten – ausdrücklich auch queere – fühlen sich nicht als Teil der Mitte, selbst wenn sie hier leben, arbeiten, Steuern zahlen, Familien gründen. Der Grund ist nicht „Empfindlichkeit“, sondern Erfahrung: Ausschluss in Bildung, Verwaltung und Alltag, Übersehenwerden in Medien und Politik, Instrumentalisierung ihrer Anliegen als „Wokeismus“-Signal.
Die politische Konsequenz ist gravierend: Eine Demokratie, die große Teile ihrer Bevölkerung symbolisch am Rand hält, schwächt ihre eigene Legitimität – und produziert das Misstrauen, das Populismus weiter nährt.
Was folgt daraus? Fünf journalistisch klare Befunde – und was Politik, Medien, Schulen tun können
- Minderheitenschutz bleibt mehrheitsfähig – aber fragil.
Die Zustimmung bricht dort ein, wo Schutz konkret wird (Schule, Sprache, Verwaltung). Politik sollte deshalb konkret kommunizieren: Worum geht’s, wer profitiert, welche Kosten, welcher Nutzen? Transparenz nimmt Kulturkämpfen den Nebel. - Queerfeindlichkeit ist kein Randphänomen, sondern ein Seismograf.
Wenn Hetero-/Sexismus als Scharnier zu anderen Abwertungen fungiert, ist die präzise Erfassung von Queerfeindlichkeit (inkl. Hasskriminalität, Schulklima, Arbeitswelt) demokratiepolitisch notwendig – nicht „Identitätspolitik“, sondern Verfassungsschutz im Kleinen. - Sprache ist keine Nebensache.
Konflikte um Gendern stehen pars pro toto für Sichtbarkeit. Öffentliche Einrichtungen sollten adressatengerecht kommunizieren – barrierearm, inklusiv, ohne Zwang und ohne Häme. Leitlinie: Respekt vor Adressierten, nicht Stilkriege. - Schule ist Schlüssel – und Angriffsziel.
Die Studie zeigt, wie „Neutralität“ missbraucht wird, um Antidiskriminierung zu delegitimieren. Schulen brauchen klare rechtliche Rückendeckung und Fortbildung, Eltern verlässliche Information, Kinder geschützte Räume, in denen Vielfalt als Normalität vorkommt – nicht als Sonderthema. - Zivilgesellschaft braucht Sicherheit.
Beratungsstellen, Jugendzentren, Pride-Orgas, Sport- und Kulturvereine sind Frühwarnsysteme. Sie brauchen mittel- und langfristige Förderung, Rechtssicherheit gegen Schikane- und SLAPP-Klagen und unkomplizierten Zugang zu Verwaltung und Polizei.
Der demokratische Imperativ: Gleichwertigkeit ohne Fußnoten
Die Mitte bleibt das Versprechen, Konflikte zivil auszutragen. Dieses Versprechen gilt nur, wenn Gleichwertigkeit nicht verhandelbar ist. Der Streit über Steuern, Klimapfade oder Mieten gehört ins Parlament; der Status queerer Menschen als gleiche Bürger:innen nicht.
Die Mitte-Studie hält der Gesellschaft einen Spiegel vor: Es reicht nicht, „gegen Hass“ zu sein. Demokratisch ist, was dort schützt, wo es unpopulär, unbequem oder missverständlich werden kann. Genau daran entscheidet sich, ob „die Mitte“ ein Ort ist, an dem alle stehen dürfen – oder ein Podest, von dem aus man anderen ihren Platz zuweist.
Hinweis der Redaktion
Dieser Beitrag stützt sich auf die Ergebnisse und Analysen der FES-Mitte-Studie 2024/25 („Die angespannte Mitte“) sowie die darin enthaltenen Kapitel zu Demokratievorstellungen, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Antifeminismus/Maskulinismus und den Interviewteilen zu Zugehörigkeit und Migration.
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