
Radio QueerLive – Eine Berliner Liebesgeschichte
Folge 36:
„Die AHA sieht blau“
Tom war für ein paar Tage nach Schwerin gefahren, um dort alte Freunde zu besuchen. Philipp dagegen hatte an diesem sonnigen Samstag keine Lust auf Wohnung, Haushalt oder die Glotze. Er wollte raus. Und weil er wusste, dass Willi, sein blauer Baumwaran, ebenso gern Sonne tankte wie er selbst, beschloss er kurzerhand, einen kleinen Ausflug zu machen – nur er und Willi.
Ziel: eine versteckte Wiese im Spandauer Forst. Dort, wo nur wenige hinkommen, wo das Gras hoch wächst, die Sonne lange scheint und die Welt ein bisschen langsamer ist.
Philipp breitete seine große Decke auf der Wiese aus, ließ sich darauf plumpsen und atmete tief durch. Willi, inzwischen vollständig an menschliche Nähe gewöhnt und eher ein pelzloser Mitbewohner als ein Reptil, krabbelte behände aus dem mitgebrachten Tragerucksack, streckte seine Beine, reckte den Kopf in die Sonne und tappte über die Wiese – auf der Jagd nach Heuschrecken.
Philipp musste lachen. Es war ein fast surrealer Anblick: ein junger Mann in Shorts, barfuß auf einer Picknickdecke – und ein blauer Baumwaran, der Jagd auf Insekten machte.
Die beiden lagen dort einfach. Stunde um Stunde. Willi wurde träge, rollte sich irgendwann wie ein Haustier auf Philipps Decke zusammen, während dieser dösend im Halbschatten ein paar Nachrichten am Handy checkte.
Und dann kam der Moment: Eine Push-Mitteilung ploppte auf. Veranstaltungstipp: ESC-Karaoke-Abend in der AHA – Einlass ab 19 Uhr, Start 20 Uhr.
Philipp blickte auf die Uhr. Kurz nach sieben. „Oh wow, das wird eng“, murmelte er. Denn zurück nach Hause und Willi wegbringen? Keine Chance mehr. „Ach, scheiß drauf“, grinste Philipp, schnappte sich seinen immer noch faulen Baumwaran, bugsierte ihn sanft in die Transportbox und hängte sich den Rucksack auf den Rücken.
Er hat wohl vergessen was passiert, wenn Willi unter Menschen kommt? Er hatte jede Panik vergessen, die sein blauer Dino angerichtet hat. Aber was soll schon passieren, dachte er sich.
Eine Stunde später stand er in der AHA in Schöneberg – ein queerer Veranstaltungsort, den Philipp bislang immer nur vom Hörensagen kannte.
Drinnen war es laut, warm, eng – und sehr lebendig.
Vorne auf der kleinen Bühne performten bereits die ersten Gäste ESC-Songs aus vollem Hals und Herzen, während die Menge tobte. Philipp grinste, suchte sich einen Platz in der dritten Reihe und stellte Willi unter den Stuhl.
„Das ist verrückt“, dachte er. „Aber irgendwie auch perfekt.“
Ein junger Mann mit Regenbogenhaaren kam zu Philipp und stellte sich vor.
„Hi, ich bin Qumix – ich arbeite hier ehrenamtlich. Willkommen in der AHA!“
Philipp strahlte. „Ich bin Philipp – ich liebe Karaoke. Das ist das erste Mal, dass ich hier bin. Was für eine Energie!“
Qumix lachte. „Klar, die AHA gibt’s seit über 50 Jahren. Ein Zuhause für viele – und ESC ist hier heilig!“
Kaum war der Satz gesprochen, wurde Qumix zur Terrasse gerufen – eine Reporterin der BLÖD-Zeitung wollte ein Interview.
Philipp blieb allein zurück, schaute sich um – und tastete unter seinem Stuhl zum Rucksack.
LEER.
„Willi? Bitte nicht“ flüsterte er irritiert.
Nichts.
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er sprang auf, durchsuchte hektisch den Boden um sich herum. Keine Spur von dem Monsterdino.

Er rannte zur Terrasse, wo Qumix gerade sprach. „Qumix, mein Tier ist weg!“
Der überlegte, was so ein schöner Typ für ein Haustier haben könnte. „Was denn, ein süßer Hamster oder ein Meerschwein?“
„Nein, ein äää… blauer Baumwaran.“
Qumix starrte ihn an. „Ein WAS?! Sind die nicht giftig?“ seine Gedanken drehten sich um einen Komodowaran, den er mal im Zoo sah.
„Nur ein bisschen. Also… nicht wirklich gefährlich… glaube ich.“ Philipp versuchte das locker rüberzubringen.
Qumix schnappte sich ein Mikrofon, rannte zur Bühne und brüllte:
„Leute! Bitte checkt mal eure Taschen! Wir haben einen… eh… besonderen Besucher verloren! Einen blauen Waran!“
Die Menge lachte. Dachten, es sei ein Gag.
„Kein Scherz! Er ist klein, blau, bewegt sich langsam – und kann klettern! Eventuell könnte er auch ein wenig, na sagen wir – giftig sein.“
Panik kam auf, einige sprangen auf ihre Stühle.
In diesem Moment sah alles gefährlich aus was blau war.

Plötzlich, dramatisch wie ein ESC-Auftritt, betrat Cathrinsche die Bühne – das Showgirl des Abends. Sie trug ein bodenlanges Regenbogenkleid, eine bunte Frisur – und…
…auf der Schulter: Willi.
Sie hatte im Dämmerlicht des Backstage und ohne Brille wohl gedacht, es sei ihr falscher Fuchspelz. Willi hingegen genoss die erhöhte Position und die Wärme des Scheinwerferlichts.
Als Cathrinsche zu singen begann, schrie jemand:
„Giftschlange!“ und zeigte auf Cathrinsche.
Und dann ging es los. Ein Tumult brach aus.
Cathrinsche dachte, der Gast meinte sie persönlich und brüllte zurück. „Du Trottel halt dein Mund.“
Als sie aber merkte das der Fuchspelz blau war und züngelte, da hörten selbst fünf Häuser weiter alle, wie viel Kraft in Cathrinsche ihrer Stimme steckte.

Willi erschrak, ihm war das zu laut. Er sprang von der Schulter, flitzte durch die Menge – direkt zurück in Philipps offenen Rucksack, der auf einem Hocker lag. Als wäre nichts gewesen.
Philipp schnappte ihn sich, verließ unauffällig die AHA und murmelte: „Okay… das war zu viel Show für einen Abend.“
⌚Am nächsten Morgen.
Tom saß mit einem Kaffee aus Schwerin zurück am Küchentisch in Berlin, blätterte durch die BLÖD-Zeitung – und las die Schlagzeile:
„Giftiges blaues Reptil in Berliner Gayclub – Panik beim ESC-Abend“
Darunter ein verschwommenes Foto: eine kreischende Cathrinsche auf der Bühne, auf der Schulter ein blaues Etwas.
Tom drehte sich zu Philipp, der gerade verschlafen aus dem Bad kam und sich auch an den Tisch setzte.
„Sag mal… möchtest du mir etwas erzählen?“
Philipp hielt inne. „Was denn?“
„Na zum Beispiel wie viele Jahrhunderte haben du und Willi jetzt Hausverbot in der AHA?“
Tom seufzte. „Wenn ich weg bin, passiert immer etwas. Aber hey… Willi scheint wenigstens Spaß gehabt zu haben.“
Plötzlich klingelte das Telefon. „Hi, hier ist Qumix, ich habe deine Nummer vom Radioteam. Könntest du bitte um 18.00 Uhr in die AHA kommen? Wir mussten schon 312 Leute abweisen, die dein Haustier nach dem Zeitungsbericht sehen wollen. Wir sagten denen, ab 18.00 Uhr bist du mit Willi und Cathrinsche hier. Von den 5 Euro Eintritt gehen 1 Euro an dein Waran. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wie wir Cathrinsche in die AHA bekommen?“
Philipp lachte los. „Wir sind gleich da.“
ENDE – Folge 36
(Und ja – Willi hat jetzt Hausverbot in der AHA. Aber nur für einen Monat.)
Morgen geht’s weiter um 20.00 Uhr mit einer neuen Geschichte.
Nachtrag.
Wollen wir hoffen das Willi die Einnahmen für die AHA verbessert, nachdem der beliebte queere Treff im Fuhrjahr eine Mieterhöhung bekam.
Sollte Willi es nicht schaffen, könnt ihr vielleicht mal am Dienstag zum Spieleabend oder am Sonntag ins Café.
Viel Spaß
P.S. Willi ist an diesen beiden Tagen nicht da 😜