Die Geschichte des § 175 StGB

Ein deutsches Kapitel der Verfolgung und späten Gerechtigkeit

Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuchs stand über ein Jahrhundert lang symbolisch für die staatliche Verfolgung homosexueller Männer. Seine Geschichte spiegelt den gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität in Deutschland wider – von Kriminalisierung über Verschärfung bis zur späten Anerkennung des Unrechts.

Kaiserreich und Weimarer Republik: Die Geburt des § 175

Der § 175 trat 1872 unter der Ägide des neu gegründeten Deutschen Kaiserreichs in Kraft. Er stellte „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe. Die Formulierung war vage, doch sie schuf die Grundlage für eine breite Kriminalisierung männlicher Homosexualität.

In der Weimarer Republik blieb der Paragraph bestehen, obwohl es erste Reformbestrebungen gab. Die Sexualwissenschaft – vor allem vertreten durch Forscher wie Magnus Hirschfeld – setzte sich für die Abschaffung ein. Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft wurde zu einem Zentrum der homosexuellen Emanzipationsbewegung. Doch der Gesetzgeber blieb zurückhaltend, Reformen wurden nicht umgesetzt.

NS-Zeit: Systematische Verfolgung und Verschärfung

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann eine massive Verschärfung und ideologisch motivierte Verfolgung homosexueller Männer. Im Jahr 1935 wurde der § 175 verschärft: Fortan reichte bereits ein „begehrlicher Blick“ oder ein Kuss, um strafrechtlich belangt zu werden. Es wurde ein neuer Absatz eingeführt, § 175a, der „besonders schwere Fälle“ unter Strafe stellte – etwa bei angeblich „verführten“ Minderjährigen oder beim „Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses“.

Zwischen 1933 und 1945 wurden schätzungsweise 100.000 Männer wegen Homosexualität verfolgt, rund 50.000 verurteilt. Viele von ihnen landeten im Gefängnis oder in Konzentrationslagern – dort gekennzeichnet mit dem rosa Winkel. Die Sterblichkeitsrate dieser Häftlingsgruppe war besonders hoch.

Nachkriegszeit in der Bundesrepublik: Kontinuität der Repression

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der § 175 in der Bundesrepublik nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Die NS-Fassung von 1935 wurde beibehalten. Urteile aus der NS-Zeit wurden nicht aufgehoben, die Verurteilten nicht rehabilitiert. Homosexuelle galten weiterhin als Straftäter – und wurden weiterhin kriminalisiert. Zwischen 1949 und 1969 kam es zu etwa 50.000 Verurteilungen.

Erst 1969 kam es zur ersten Reform: Der § 175 wurde liberalisiert. Sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern wurden entkriminalisiert – sofern beide über 21 Jahre alt waren. 1973 senkte man das Schutzalter auf 18. Vollständig abgeschafft wurde der Paragraph jedoch erst 1994, nach der deutschen Wiedervereinigung – 123 Jahre nach seiner Einführung.

Rehabilitation und späte Anerkennung des Unrechts

Die Rehabilitierung der Verurteilten ließ lange auf sich warten. Erst 2002 hob der Bundestag Urteile aus der NS-Zeit formell auf. 2017 folgte ein Gesetz zur Rehabilitierung und Entschädigung aller nach 1945 Verurteilten – ein historischer Schritt, aber für viele zu spät.

Ergebnis:

Die Geschichte des § 175 ist eine Geschichte staatlicher Diskriminierung, die das Leben von Tausenden zerstört hat. Sie zeigt, wie Recht zur Repression werden kann – und wie lange es dauert, bis Unrecht als solches erkannt und aufgearbeitet wird. Die Abschaffung des Paragraphen war ein Meilenstein – doch die gesellschaftliche Aufarbeitung dieses Kapitels bleibt eine Aufgabe für Gegenwart und Zukunft.

Radio QueerLive
Die Redaktion