
Radio QueerLive – Eine Berliner Liebesgeschichte
Teil 62:
„Die Mulackritze 1932“
Die schwere Holztür im Keller knarrte, als Frau Bond sie aufstieß. Ein warmer, dichter Schwall aus Zigarettenrauch, Stimmengewirr und Musik schlug Philipp entgegen. Er blinzelte – und konnte kaum glauben, was er sah.
Ein niedriger Raum, dunkle Holzvertäfelung, ein altes Grammophon auf der Theke, aus dem ein kratziger Walzer erklang. Männer in dunklen Anzügen, Frauen in Hosenanzügen mit kurzen Haaren oder in Glitzerkleidern. Gelächter, Gläserklirren, leises Flüstern in den Ecken.
„Willkommen in der Mulackritze, 1932“, sagte Frau Bond leise und sah ihn von der Seite an.
Philipp riss die Augen auf. „Das… das ist die älteste Gaykneipe Berlins? Ich steh’ hier mitten drin?“
„Genau. Aber pass auf. Hier ist es schön – aber auch gefährlich.“
Philipp hörte kaum hin. Sein Blick war auf drei junge Männer an einem Tisch gefallen. Sie waren vielleicht 20, 22, 25 Jahre alt. Saubere Seitenscheitel, Anzüge, hell glänzende Schuhe. Sie lachten, prosteten sich zu.
Philipp ließ sich wie magisch angezogen neben sie fallen. „Hi… ich bin Philipp.“
Die drei sahen ihn neugierig an.
„Ernst,“ sagte der erste.
„Wilhelm,“ grinste der zweite.
„Und ich bin Karl,“ nickte der dritte.
Philipp lachte. „Ihr habt echt… sehr klassische Namen.“
Die Jungs grinsten zurück. „Und du bist… komisch angezogen,“ meinte Karl und tippte auf Philipps T-Shirt. „Sieht nicht gerade nach 1932 aus.“
Philipp wurde rot. „Äh… Sonderanfertigung.“
Während sie lachten und Bier bestellten, wanderte Frau Bond durch den Raum. Sie musterte die alten Möbel, beobachtete die Gäste – als plötzlich eine Frau auf den Tresen stieg.

„Meine Damen und Herren!“ rief sie. Dann stimmte sie ein raues, lautes Lied an, begleitet vom Grammophon. Die Gäste klatschten im Takt. Philipp spürte, wie ihm das Herz klopfte.
Frau Bond beugte sich zu ihm. „Das ist Claire Waldoff. Sie singt heute hier, bevor sie zurück zum Nollendorfplatz geht. Eine Legende.“
Philipp war wie verzaubert. Doch der Zauber zerbrach Sekunden später.
Die Tür flog krachend auf. Mehrere Männer in langen Mänteln stürmten herein. „Sittenpolizei! Kontrolle!“ Einer rief: „Alle sitzen bleiben – wir prüfen hier auf Unzucht!“
Panik brach aus. Stühle kippten, Gläser zerbarsten. Gäste drängten zur Hintertür. Philipp sprang auf. Frau Bond packte seine Hand. „Los, Philipp, zur Tür!“

Sie rannten. Frau Bond erreichte die unsichtbare Zeittür, sprang hindurch – Philipp stolperte hinterher. Doch im selben Moment griff ihn ein Polizist am Kragen zurück.
Frau Bond verschwand – Philipp blieb gefangen.
Frau Bond war sicher, holte sehr tief Luft, dreht sich um und ging wieder durch die Tür.
⌚
Ein Tag später.
Die Mulackritze war leerer, gedrückter. Weniger Lachen, mehr Flüstern. Frau Bond trat an den Tresen. „Wo sind die drei Jungs, die gestern hier saßen?“
Die Barfrau sah sie traurig an. „Einer wurde verhaftet. Zwei sind entkommen.“
Frau Bond nickte knapp, verließ die Kneipe. Auf der Straße blieb sie abrupt stehen. Vor ihr stand der grimmige Hans, die Hände tief in den Taschen, sein Gesicht ernst wie immer.
„Du suchst jemanden,“ brummte er.
„Ja,“ sagte Frau Bond atemlos. „Philipp. Ich muss ihn finden.“
Hans nickte. „Komm mit.“
Sie gingen durch enge Höfe, vorbei an Wäscheleinen, bis in den sechsten Hinterhof der Müllerstraße. Hans klopfte rhythmisch an eine Kellertür. Sie öffnete sich – einer der Jungs vom Vortag lugte heraus.
„Schnell rein,“ flüsterte er.
Im Innern roch es nach Kohle und kaltem Rauch. Auf einem Bett lag Philipp. Sein Kopf war verbunden, die Augen geschlossen.
„Was ist mit ihm?“ rief Frau Bond.
„Einer von den SA-Männern hat ihn mit dem Gewehrkolben erwischt,“ sagte der Junge.
Hans trat ans Bett, legte die Hand über Philipps Stirn. „Das heilt.“ Seine Stimme klang tief, fast beschwörend. Philipp atmete tiefer, öffnete die Augen. Der Schmerz war weg.
„Was… was passiert ist?“ murmelte er.
Frau Bond packte seine Hand. „Du lebst. Das reicht.“
Doch Ernst trat vor. „Karl sitzt noch im Polizeirevier.“
„Dann holen wir ihn,“ sagte Hans knapp.
⌚
Am Polizeirevier.
„Ich bin seine Mutter,“ sagte Frau Bond streng zum Beamten. „Mein Junge ist unschuldig.“
Der Polizist musterte sie. Hans trat hinter sie, sein Blick so finster, dass der Beamte schluckte. „Na gut. Aber schnell.“
Wenig später standen sie wieder auf der Straße. Karl taumelte, aber er war frei.
⌚
Zurück im Keller.
Alle saßen beisammen: Philipp, Ernst, Wilhelm, Karl, Frau Bond und Hans. Die Stimmung war ernst.
Frau Bond sah die drei Jungen nacheinander an. „Hört mir zu. In einem Jahr wird dieses Land die Hölle sein. Wenn ihr leben wollt – müsst ihr fort.“
Die drei sahen sie erschrocken an. „Fort? Wohin?“
Hans antwortete ruhig: „In die Schweiz. Ich bringe euch hin.“
Karl nickte langsam. „Wenn das stimmt, was ihr sagt… dann gehen wir. Und danke das ihr uns hier gewarnt habt.“
Frau Bond reichte Hans die Hand. „Danke.“ „Tu nur meine Pflicht,“ murmelte er.
Wilhelm schaute sie mit großen Augen an. „Wer seid ihr, russischer KGB, amerikanische CIA?“
Frau Bond musste schmunzeln aber Philipp fiel ihr ins Wort. „Viel schlimmer – QueerLive.“
⌚
Anhalter Bahnhof

Philipp machte große Augen, als er mit den Anderen durch die riesige Halle vom Anhalter Bahnhof ging. Dort stand auf Gleis 1 ein Schnellzug in Richtung Basel.
Hans stieg sofort ein, ohne zu zögern, ohne sich zu verabschieden.
Philipp und Frau Bond verabschiedeten sich von ihren drei neuen Freunden .
Lange schauten sie erst dem Zug und dann den roten Rücklichtern nach.
⌚
Zurück in der Mulackritze.
Frau Bond zog Philipp durch die Zeittür – und plötzlich standen sie wieder im Radiostudio. Philipp brach in Tränen aus. „Das… das war zu viel. Diese Angst, die Gewalt, die Verzweiflung…“
Frau Bond hielt ihn fest. „Du hast gesehen, was war. Und was nie vergessen werden darf.“
Sie führte ihn ins Archiv, holte ein dickes Geschichtsbuch hervor. „Schau hier.“

Aufgeschlagene Seite: Ein Foto von drei jungen Männern, die in den 30er Jahren aus der Schweiz gegen Hitler protestierten. Unter dem Bild stand: Ernst, Wilhelm und Karl – Aktivisten im Exil.
Philipp schnappte nach Luft. „Das sind… die drei. Von meinem Tisch.“
Frau Bond nickte ernst. „Ja. Sie haben überlebt. Und sie haben gekämpft.“
Philipp schlug das Buch zu, Tränen in den Augen. „Danke, dass ich das sehen durfte.“
„Nein,“ sagte Frau Bond leise. „Danke, dass du es mitgetragen hast“
Philipp offnete es wieder, blätterte im schweren Archivbuch weiter, seine Finger zitterten leicht. „Hier… Frau Bond… schau mal.“
Seine Stimme brach fast.
Auf der Seite stand in alter, verblasster Schrift:
„1955 – Rückkehr nach Berlin. Ernst, Wilhelm und Karl, nach Jahren im Exil in der Schweiz, kehrten in ihre Heimat zurück, lebten hier bis ins Alter und fanden ihre letzte Ruhe auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof in der Yorckstraße.“
Philipp schlug die Hand vor den Mund. „Sie… sie haben überlebt. Sie haben es wirklich zurück geschafft.“
Frau Bond legte ihre Hand sanft auf seine Schulter. „Siehst du? Manchmal schreibt das Leben ein zweites Kapitel, wenn man nicht mehr damit rechnet.“
Philipp atmete tief durch. „Bitte… begleitest du mich dahin?“
„Natürlich,“ sagte Frau Bond, „du bist nicht der Erste, den ich an diesen Ort führe.“
⌚
Später, auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof
Die Sonne stand tief, ein warmes, goldenes Licht fiel über die alten Grabsteine. Vögel zwitscherten in den Bäumen, es war still, fast ehrfürchtig.
Frau Bond führte Philipp über schmale Wege, zwischen alten Steinkreuzen und kunstvollen Gräbern hindurch. Schließlich blieb sie stehen. „Da.“
Vor ihnen ein einfacher Grabstein, moosbewachsen, mit drei Namen eingraviert:
Ernst – Wilhelm – Karl
Aktivisten im Exil – Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit.
Philipps Knie wurden weich. Er strich über die Schrift, die Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. „Ich… ich hätte ihnen so viel sagen wollen. Danke… dass sie gekämpft haben. Dass sie durchgehalten haben.“

Frau Bond tippte ihn sanft an. „He, Junge… nicht nur weinen. Ich hab was dabei.“
Sie zog aus ihrer Tasche drei Bierflaschen hervor. „Ich dachte mir… wir trinken mit unseren alten Freunden hier.“
Philipp blinzelte, ein zittriges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Du bist unmöglich.“
„Bin ich,“ grinste Frau Bond, öffnete die Flaschen mit einem alten Schlüsselanhänger. Sie reichte Philipp eine und stellte die zweite oben auf den Grabstein.
„Auf Ernst, Wilhelm und Karl,“ sagte sie.
Philipp hob sein Bier, seine Stimme brach leicht: „Auf euch… und dass es nie wieder so weit kommen muss.“
Sie tranken schweigend, während die Sonne langsam hinter den Grabsteinen verschwand.
Und für einen Moment war es, als stünden Ernst, Wilhelm und Karl ganz nah bei ihnen – lachend, wie damals in der Mulakritze.
Ende Teil 62
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