
Radio QueerLive – Eine Berliner Liebesgeschichte
Teil 81
Die Nacht der Verkleidungen
Es war einer dieser verregneten Berliner Herbstabende, an denen man eigentlich nichts anderes will, als sich auf dem Sofa einzukuscheln. Doch Philipp und Tom hatten einen Plan. In der Zeitung hatten sie gelesen, dass am 7. Oktober einst der Geburtstag der DDR gefeiert wurde – und weil Frau Bond ja in der DDR geboren war, wollten sie ihr eine kleine Überraschung bereiten.
Tom hatte sich im Sender Radio QueerLive heimlich einen Beamer ausgeliehen, während Philipp ein weißes Bettlaken an die Wohnzimmerwand gehängt hatte. Ihre improvisierte Leinwand flackerte leicht im Windzug des geöffneten Fensters.
„Tadaa!“, rief Philipp, als Frau Bond hereinkam, den Mantel abstreifte und mit neugierig hochgezogener Augenbraue stehenblieb.
„Was habt ihr schon wieder angestellt?“, fragte sie misstrauisch.
„Nichts Schlimmes!“, sagte Tom schnell. „Wir haben was vorbereitet, extra für dich. Zeitgeschichte, Emotion, Drama – das volle Programm!“
Philipp grinste breit. „Wir zeigen dir den Film Coming Out von Heiner Carow! Premiere am 9. November 1989 – äh, ’88 eigentlich – Kino International, Ost-Berlin!“
Frau Bond schmunzelte und ließ sich auf das Sofa fallen. „Na dann… Film ab.“
Während der Film lief, herrschte Stille. Nur der leise Projektorlüfter summte. Auf der Leinwand flackerten Szenen aus Ost-Berlin, der Burgfrieden, die grauen Straßen, Menschen mit echten Gesichtern. Philipp und Tom starrten gebannt.
„Guck mal, die Kneipe da, das war echt so ein Treffpunkt?“ fragte Philipp flüsternd.
Frau Bond nickte. „Oh ja. Da war was los, sag ich euch. Zwischen Angst, Wodka und ganz viel Mut.“
Als der Film zu Ende war, war das Wohnzimmer in warmes Licht getaucht. Philipp und Tom sahen sich an, ein stilles, verschworenes Grinsen.
„Na, was plant ihr zwei jetzt wieder?“ fragte Frau Bond misstrauisch.
„Na komm schon, du weißt es doch!“ sagte Philipp.
„Eine klitzekleine Zeitreise!“, fügte Tom hinzu, fast flehend.
Frau Bond verdrehte die Augen. „Ihr zwei seid schlimmer als der Trabant 601, der nie anspringt. Na schön, aber wehe, wir landen wieder irgendwo zwischen Mauer und Stasi!“
Sie legte ihre Hände auf ihre Stirn – Klatsch! – und im nächsten Moment war die Welt um sie herum verschwommen.
⌚
Zurück in die DDR – Prenzlauer Berg, 1976
Die drei standen mitten auf einer Straße, die im Nebel grauer Kohleschwaden lag.
„Boah!“, hustete Philipp. „Was stinkt denn hier so?!“
Frau Bond sah sich um. „Das, mein Lieber, ist das Gaswerk. Hier wurde Stadtgas produziert. Willkommen in der Dimitroffstraße – die wird später mal Danziger Straße heißen.“
Tom blinzelte in den Dunst. „Also Romantik ist anders.“
„Ach, ihr Banausen. Damals war das hier Kultur pur!“, sagte Frau Bond, zog die Schultern hoch und deutete auf die Straßenbahnhaltestelle. „Kommt, wir fahren in den Burgfrieden. Das war der Treffpunkt.“

Die alte DDR-Tram quietschte in die Haltestelle, elfenbeinfarben lackiert, die Scheiben leicht beschlagen. Die Türen ließen sich nur mit einem kräftigen Ruck öffnen. Philipp grinste: „Wie im Museum!“
Nach einer rumpeligen Fahrt stiegen sie a U Bf. Dimitroffstraße aus und gingen zur Wichertstraße. Die alten Gaslaternen flackerten. An einer Tür hing ein Schild: Burgfrieden.
Drinnen roch es nach Bier, Bohnerwachs und Zigarrenrauch.
„Das muss die DDR-Version von QueerLive sein“, flüsterte Tom.
Hinter dem Tresen stand Dirk, ein kräftiger Barkeeper mit Schnauzer, und im hinteren Raum Helga, eine zierliche Frau mit weinrotem Haar.
„Na, ihr drei seid ja neu hier“, sagte Helga misstrauisch. „Von der Stasi seid ihr aber nicht, oder?“
Philipp lachte nervös. „Äh… nein. Wir kommen… ähm… aus Prenzlauer Berg.“
Helga verzog das Gesicht. „Dann seid ihr hier falsch. Heute ist kaum jemand da. Alle sind auf dem ersten Tuntenball in Lichtenberg!“
Philipp riss die Augen auf. „Ein Tuntenball? In der DDR? Das müssen wir sehen!“
Tom und Philipp fingen sofort an zu betteln. Frau Bond seufzte. „Ihr seid wie zwei Kinder vor’m Zuckerladen!“
Helga zögerte, dann lachte sie laut, als sich Philipp und Tom spontan küssten.

„Na schön! Ich seh schon, ihr seid echt. Siegfriedstraße in Lichtenberg. Aber sagt keinem, dass ich’s gesagt hab!“
⌚
Der geheime Fasching
Die alte DDR S-Bahn ratterte durch die dunkle Nacht. Graue Häuserwände, Plattenbauten, Neonreklame von Club Cola. Für Philipp und Tom fühlte sich alles an wie eine andere Welt.
Vor einer unscheinbaren Kneipe in der Siegfriedstraße standen zwei Männer. Über der Tür hing ein Schild: Geschlossene Faschingsveranstaltung.
Drinnen klang Musik, Lachen, das Klirren von Gläsern.
Ein junger Mann kam auf sie zu. „Leute, das ist privat! Raus hier.“
Philipp versuchte es diplomatisch. „Helga aus dem Burgfrieden hat uns geschickt.“
Der Mann – Frank, wie sie bald erfuhren – musterte sie lange, dann grinste er. „Na gut. Aber ohne Kostüm keine Party!“
Im Nebenraum hingen an Kleiderständern Perücken, Kleider, Blusen, Anzüge. Philipp hielt ein glitzerndes Retro-Kleid hoch. „Das ist ja fast Haute Couture!“
Tom zwinkerte. „Du wirst eine umwerfende Dame sein.“
Frau Bond stand da mit verschränkten Armen, bis sie schließlich ein Hose mit Hemd und Hosenträger entdeckte. „Na, dann bin ich euer Tanzpartner. Und wehe, jemand lacht!“
Als sie den Saal betraten, stockte Philipp der Atem.
Über hundert Menschen tanzten, lachten, küssten sich. Männer in Kleidern, Frauen in Anzügen, Glitzer, Perücken, bunte Tücher – eine Explosion aus Freiheit und Freude in einem Land, das eigentlich keine hatte. Eine Frau war als Matrose verkleidet.
„Das ist unglaublich“, flüsterte Tom.
„Das ist Mut“, sagte Frau Bond leise.

Sie tanzten, tranken, lachten. Frank kam zu ihnen, seine Wangen glühten. „Ihr seid doch nicht von hier, oder?“
Philipp zögerte. „Nicht ganz… wir kommen aus 2025.“
Frank sah ihn an, als hätte er gerade einen schlechten Witz gehört. Doch Frau Bond nickte ernst.
Er holte seinen DDR-Personalausweis hervor, zeigte ihn ihnen. „Sollte ich in eurer Zeit noch leben… dann sucht mich. Ich wohn hier in Berlin.“
Philipp und Tom schauten sich an – und nickten. „Versprochen.“
⌚
Zurück in die Gegenwart
Mit einem leisen Klatsch! waren sie wieder da. Berlin, 2025. Der Beamer blinkte noch im Wohnzimmer, das Bettlaken hing schief an der Wand.
„Das war…“, begann Tom.
„…magisch“, ergänzte Philipp.
Frau Bond lächelte. „Ihr habt Geschichte erlebt. Und jetzt entschuldigt mich, ich brauche ein Glas Wein.“
⌚
Der Tag danach
Am nächsten Morgen hielt Philipp Toms Hand. „Ich will wissen, ob Frank noch lebt.“
Tom nickte. „Dann los.“
Sie standen vor einem alten Mietshaus in Prenzlauer Berg. Am Klingelschild stand tatsächlich Frank K.
Philipp drückte den Knopf. Eine alte Stimme aus der Sprechanlage: „Dritte Etage, bitte hochkommen.“
Oben öffnete sich die Tür – und da stand er. Frank, jetzt alt, graue Haare, aber dieselben warmen Augen.

Er lachte, als er sie sah. „Ihr habt also wirklich nicht gelogen! Ihr seid echt keinen Tag älter.“
Philipp und Tom standen sprachlos da.
Frank nahm sie in die Arme. „Kommt rein, ihr Lieben. Ich hab Kaffee aufgesetzt. Und ich hab noch Fotos von damals, sogar mit euch.“
Auf dem Couchtisch lagen vergilbte Schwarzweißbilder: Männer in Kleidern, Frauen in Anzügen, lachend, tanzend und mittendrin Philipp, Tom aber auch Frau Bond.
Philipp sah lange auf eines der Fotos. „Ihr wart Helden“, flüsterte er.
Frank nickte. „Wir waren einfach nur wir selbst. Das war schon Revolution genug.“
☕️
Der Geruch von Kaffee, die leise tickende Uhr, und draußen das Berlin von heute.
Philipp und Tom sahen sich an – glücklich, dankbar, ein bisschen bewegt.
Frau Bond war diesmal nicht dabei, aber irgendwo – ganz sicher – lächelte sie.
Ende von Teil 81 –
Die Nacht der Verkleidungen.
❤️🧡💛💚💙💜
Nachtrag
Insgesamt gab es wohl drei Tuntenbälle in der DDR. Unser Zeitzeuge Frank K. hat Radio QueerLive vor vielen Jahren Bilder von diesen Events zur Verfügung gestellt.
Hier seht ihr Bilder aus diesen drei Jahren.
Zwei dieser Bälle fanden in der Lichtenberger Siegfriedstraße statt, damals getarnt als Fasching.
Zuletzt fand einer dieser Bälle im Burgfrieden statt. Auf einigen Bildern könnt ihr mich einmal in den Burgfrieden eintauchen.
Frank K. lebt heute noch in Berlin Prenzlauer Berg. Am Sonntag trafen wir ihn abends auf dem S Bahnhof Schönhauser Allee. Wir kennen Frank K. seit Anfang der 2000der Jahre.
Bei Radio QueerLive erzählte er uns vor knapp 10 Jahren von diesen drei legendären Tuntenbälle.
Unsere kleine Geschichte ist ihm gewidmet und allen, die mit ihrem Engagement unsere Freiheit zu Leben vorbereitet und erkämpft haben.
Danke














