
Radio QueerLive – Eine Berliner Liebesgeschichte
Teil 28
Zwischen Hoffnung und Niemandsland
Morgengrauen, 3:30 Uhr.
Der LKW rollt schwerfällig aus der Hohen Tatra und erreicht die ersten Ortschaften in der Ebene. Der Himmel ist blassgrau, die Welt wirkt still, als würde sie die Luft anhalten. Tom sitzt am Steuer, Fabian neben ihm. Hinten im Führerhaus dösen Marc und Steven auf einer Isomatte. Die Nachtfahrt hat alle mitgenommen, aber keiner sagt ein Wort. Sie wissen, was noch vor ihnen liegt und was von ihnen abhängt.

Im Park Inn Hotel, im Salon 6, glühen die Bildschirme. Gustav starrt auf die Karte an der Wand, auf der eine leuchtend gelbe Stecknadel sich bewegt. Deutschland, Polen, Slowakei, ganz rechts: die Ukraine. Dazwischen die Route des LKWs. Philipp steht am Laptop, einen Kakao in der Hand, den er längst vergessen hat und der mittlerweile kalt ist. Jakob telefoniert im Hintergrund mit einer Spenderin, die spontan nochmal 400 Euro für Lebensmittel geschickt hat.
„Sie sind auf Kurs“, sagt Gustav schließlich. „Wenn nichts dazwischenkommt, erreichen sie die Grenze nach 17:00 Uhr.“
Und genau das tun sie. Kurz vor halb sechs bremst der LKW langsam ab.
Eine lange Schlange von Fahrzeugen steht bereits vor dem letzten Kontrollpunkt. Menschen steigen aus, laufen unruhig auf und ab. Manche schlafen im Sitzen. Ein Junge weint. Eine Frau kocht Wasser auf einem Gaskocher.
Tom lehnt sich aus dem Fenster und fragt einen Vater, der mit seiner Tochter im Arm an der Leitplanke sitzt: „Wie lange habt ihr gebraucht, um hierherzukommen?“ Der Mann antwortet erschöpft: „Zwei Tage. Ohne Pause. Kein Wasser, kein Essen. Nur Warten.“
Tom schluckt und schaut zu Marc, „gib ihnen mal Lebensmittel und was zu trinken. Vielleicht findest du auch Kekse.
Dann klingelt sein Handy. Es ist die Aktivistin vom Shelter. Ihre Stimme ist brüchig, die Verbindung schlecht. „Wir schaffen es nicht“, sagt sie. „Wir stehen auf der anderen Seite. Zwei Tage Stau. Und… mein Auto… das kriegt eure Ladung nie mit. Es ist ein alter Wagen. Die Sachen passen da nicht rein.“
Steven bekommt Panik, „2 Tage an der Grenze warten“?
Tom legt langsam auf. Schaut in den Rückspiegel, dann auf seine Jungs. Fabian, Marc, Steven – alle wach, alle still. Er sagt nur zwei Worte: „Wir fahren rüber. Für wen das zu gefährlich erscheint, steigt aus und wartet hier auf uns“.
„Wie, wir fahren?“, fragt Marc.
„Rein. In die Ukraine.“ kam von Fabian.
„Du willst mit dem LKW über die Grenze? Bist du verrückt?“, sagt Steven.
„Hast du eine bessere Idee?“, fragt Tom. „Wir stehen hier. Die Leute brauchen das Zeug. Da drüben wartet ein Shelter. Und wenn wir nicht liefern, war alles umsonst.“
Fabian atmet tief durch. „Okay. Dann fahren wir rein.“
Der Motor springt an, langsam rollt der LKW nach vorne – über die letzte weiße Linie. Ohne Rücksprache mit Berlin.
Ohne Plan B. Nur mit Überzeugung.
Im Salon 6 hebt Gustav abrupt den Kopf. „Was zum…?“
Philipp tritt heran. „Was ist los?“
„Der Punkt. Der LKW. Der steht nicht mehr vor der Grenze.“
„Wie er steht nicht mehr an der Grenze?“
Gastav schaut zu Philipp, „Er ist auf der Linie, der Grenzlinie. Warte… Nein, jetzt ist er drüben. Der fährt rein!“
Jakob wäre fast mit dem Stuhl nach hinten gekippt, weil er kippelte und fast das Gleichgewicht verloren hätte. „Nein! Das dürfen die nicht. Nicht ohne Absprache!“
„Warum fahren die?“, murmelt Philipp. „Warum ohne uns?“
Dann klingelt sein Handy. „Tom?“, sagt er scharf.
Die Verbindung ist schwach, es rauscht. Dann Toms Stimme, leise. „Bevor du dich aufregst… wir sind jetzt zwischen den Grenzstationen. Im Niemandsland. Gleich geht’s rein in die Ukraine.“
Stille.

„Was hast du gesagt?“, fragt Philipp. Er war noch gefasst.
„Wir mussten das tun“, sagt Tom ruhig. „Die Frau kommt nicht durch. Und sie hat nur einen PKW und bekommt unsere Lieferung nicht weg. Wir machen das.“
Philipp steht starr da, das Handy am Ohr. Dann wurde er laut, sehr laut. „Du weißt, dass das keine gute Idee ist.“
„Ja.“
„Und du hast’s es trotzdem getan.“
„Ja.“
Philipp schließt die Augen. Dann murmelt er: „Wenn du da nicht heil wieder rauskommst, bring ich dich persönlich um.“
Er versuchte wieder gefasst zu wirken.
„Ich liebe dich auch“, sagt Tom – und legt auf.
Im Park Inn ist es still. Jakob sieht zu Philipp. „Was hat er gesagt?“
Philipp schaut auf den Bildschirm. Der gelbe Punkt steht jetzt im Niemandsland. Direkt vor dem ukrainischen Schlagbaum.
Er antwortet nur: „Er hat’s getan. Sie fahren alle vier rüber in die Ukraine.“
Ende Teil 28.
Morgen geht es weiter um 20.00 Uhr