
Radio QueerLive
Eine Berliner Liebesgeschichte
Folge 38
„Was du nicht sagst“
Die Teelichter flackerten auf dem Couchtisch, warfen goldene Reflexe auf die halb leere Teetasse und auf das zerwühlte Sofakissen, das zwischen Philipp und Tom eingeklemmt war. Der Fernseher lief stumm, irgendwas mit Naturdokumentation, aber keiner achtete darauf.
Philipp saß im Schneidersitz, barfuß, mit seinem grauen Hoodie halb über die Schultern gerutscht. Er kaute auf seiner Unterlippe. Die Worte lagen ihm seit Tagen auf der Zunge. Jetzt, da es ruhig war, jetzt musste er es einfach sagen.
„Tom?“, fragte er leise.
Tom saß mit angezogenen Beinen am anderen Ende des Sofas, die Stirn gegen das Fenster gelehnt. Er drehte nur leicht den Kopf. „Hm?“
„Ich hab da… also… ich wollte dich was fragen.“
„Okay?“ Ein kaum hörbarer Ton. Etwas in seinem Blick wurde vorsichtig.
„Du kennst ja meine Eltern inzwischen“, begann Philipp, „also, Mama liebt dich total. Sie fragt dauernd, ob du wieder mitkommst. Papa… naja, der hat immer Respekt, aber du hast auch bei ihm einen Stein im Brett.“
Tom lächelte flüchtig. „Das ist schön.“
„Aber…“, fuhr Philipp zögerlich fort, „ich hab deine noch nie gesehen. Nicht mal ein Bild.“
Stille.
Tom sah wieder zum Fenster hinaus. Ein Radfahrer huschte über die nasse Straße. Dann sagte er: „Muss ja auch nicht unbedingt sein.“
Philipp runzelte die Stirn. „Warum nicht? Ich will einfach… ich weiß nicht… ich will verstehen, wo du herkommst. Was dich geprägt hat. So wie du mich ja auch kennengelernt hast mit allem.“
Tom schwieg.
„Tom?“ Philipp rückte ein wenig näher, seine Stimme war sanft, fast flüsternd. „Was ist los? Du kannst mit mir reden.“
Tom atmete hörbar ein, dann aus. Er stand langsam auf, ging zum Tisch, nahm seine Teetasse, stellte sie wieder ab. Dann sagte er, stockend: „Ich kann das grad nicht. Nicht heute.“
Philipp sah ihn an, und in Toms Gesicht flackerte kurz etwas auf – ein verletzter Blick, der ihn nur für einen Moment streifte, dann war er wieder weg. Doch etwas blieb. Eine Spannung, ein Zittern in der Luft.
„Was… was meinst du?“, fragte Philipp vorsichtig.
„Ich… ich geh kurz in die Küche.“ Toms Stimme war brüchig. Er drehte sich um, hastig, fast fluchtartig.
Philipp blieb zurück, starrte ins Kerzenlicht. Er hatte ihn verletzt. Er spürte es. Und das nagte sofort an ihm.
⌚ Zwei Tage später, ein kalter Abend in Schöneweide.
Tom fuhr schweigend. Philipp hatte keine Ahnung, wohin sie fuhren. Die Straßen wurden leerer, grauer, die Fassaden bröckeliger.
„Wir sind gleich da“, sagte Tom.
„Wo denn?“, fragte Philipp leise.
Tom antwortete nicht sofort. Dann stoppte er das Auto. Vor ihnen lag ein altes, halb zerfallenes Haus. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, Graffiti überall. Der Zaun rostete, der Gehweg war mit welkem Laub bedeckt.
„Hier ist es“, sagte Tom. „Hier hab ich gewohnt. Als Kind.“
Philipp runzelte die Stirn. „Was meinst du? Das… das ist ein Heim, oder?“
Tom nickte. „Ja. Ein Kinderheim.“

Stille.
„Ich war vierzehn“, begann Tom. Seine Stimme war ruhig, aber innen bebte etwas. „Meine Eltern waren streng religiös, katholisch. Sehr. Und… sie haben rausgefunden, dass ich schwul bin. Also… nicht weil ich es gesagt hab. Es war nur… ein Brief. Von einem Jungen aus der Schule. Ganz harmlos.“
Philipp sah ihn mit offenem Mund an. Er fühlte das er Tom nicht hätte in die Enge treiben dürfen. Er hatte ein ganz schlechtes Gewissen.
„Zwei Tage später saß ich im Auto mit meiner Mutter. Ohne Koffer. Sie hat nichts gesagt. Nur das Fenster war auf. Ich hab noch nie so gefroren im August.“
Philipp konnte nichts sagen. Nur atmen. Leise.
„Sie haben mich abgegeben. Und danach nie wieder gesehen. Kein Anruf, kein Brief. Nichts.“
Tom fuhr sich über die Augen. „Ich kann nicht gut vertrauen. Ich will es. Aber… es ist schwer. Wenn du fragst, ob du meine Eltern kennenlernen darfst, dann… dann tut das weh. Weil es sie für mich nicht mehr gibt.“
„Oh Gott“, murmelte Philipp. Er trat einen Schritt näher, wollte ihn berühren – aber stoppte. Er spürte, dass Tom gerade seine ganze Kraft brauchte, nur um stehenzubleiben.
„Es tut mir so leid“, sagte Philipp.
Tom schüttelte den Kopf. „Du hast nichts falsch gemacht. Du hast nur gefragt. Weil du mich liebst. Und das ist… schön. Und beängstigend.“
⌚ Drei Tage später.
Als Tom die Tür zu seiner Wohnung öffnete, roch es nach Zimt. Und Kerzen. Und… irgendetwas Warmem.
„Philipp?“, rief er in die Wohnung.
„Im Wohnzimmer!“
Tom trat ein – und blieb stehen.
Auf dem Couchtisch lag ein leerer Bilderrahmen. Daneben ein Zettel, auf dem in bunter Schrift stand:
„Familie ist das, was wir uns selbst erschaffen.“
Und zwei bunte Stifte.
Philipp stand neben der Couch, in der Hand eine kleine Polaroidkamera. Er lächelte vorsichtig.

„Wollen wir ein erstes Familienfoto machen?“, fragte er.
Tom sah ihn lange an. Dann trat er langsam näher, schloss Philipp in die Arme – und flüsterte nur: „Danke.“
Ende Teil 38
Morgen geht’s weiter um 20.00 Uhr
Nachtrag
Wir erleben es immer wieder in Gesprächen mit der Community, dass viele als Kind im Heim groß wurden. Leider spielte nicht nur einmal das Thema Religion eine Rolle, damit Eltern ihr rund ins Heim brachten.